Am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie an der Freien Universität Berlin arbeitet die junge Dozentin Anna-Lena Scholz. Sie schreibt gerade an ihrer Dissertation. Als ehemalige Studentin, ERASMUS-Studentin an der Universität Oxford und jetzige Wissenschaftliche Mitarbeiterin ist sie selbst vom Leistungsdruck betroffen und hat die Leistungsgesellschaft aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten können. Sie spricht über ihre Erfahrungen und Eindrücke.
Von Cordula Stumpf
Leben wir in einer Leistungsgesellschaft?
Ich denke, dass sich die Definition des Begriffs „Leistung“ gewandelt hat. Leistung wird heute als etwas empfunden, bei dem ein Anspruch artikuliert wird, während man eigentlich gar nicht genau weiß, wer diesen Anspruch für wen formuliert. Dadurch entsteht das schwer zu definierende Gefühl, dass es eine übermächtige Struktur oder Instanz gibt, die eine Leistung von mir verlangt, ohne dass ich einen Einfluss darauf habe, ob ich diese Leistung je zufriedenstellend erbringen kann.
Bezieht sich diese Leistungsproblematik nur auf Bildungseinrichtungen oder ist das ein generelles, gesellschaftliches Problem?
Vermutlich handelt es sich um ein zeitgeschichtliches Phänomen, das an den Bildungseinrichtungen besonders sichtbar wird. Beim Begriff wäre ja zu fragen, wer denn diese „Gesellschaft“ genau ist und in welchem Verhältnis sie zu einer Leistung steht, die einem abverlangt wird. Sind es beispielsweise Institutionen oder Individuen, von denen eine Leistung gefordert wird? Genau das ist die Schnittstelle, an der Schulen und Universitäten stehen. Dozentinnen und Dozenten verlangen bestimmte Prüfungsleistungen ab, aber das tun sie, indem sie als Individuen die Strukturen und Institutionen verkörpern, in die sie selbst eingebunden sind.
Wo kommt der Druck her?
Es ist sehr schwer zu entscheiden, wer dafür verantwortlich ist, dass ein Leistungsdruck empfunden wird. Er zeigt sich an Individuen, ist aber wahrscheinlich, zumindest teilweise, strukturell bedingt.
Denken Sie, dass der Druck von der Bologna-Reform und der Einführung des Bachelors herrührt?
Die Bologna-Reform ist Teil einer größeren Veränderung. Sie steht in Verbindung mit der Verinnerlichung einer im Grunde kapitalistischen Struktur zum Wohle der Institution, die davon profitiert, dass alles effizienter und schneller wird. Die Umformulierungen der Studienordnungen auf Effizienz, Schnelligkeit und Kompetenzen sind tatsächlich ein Punkt, an dem man das ganz gut ablesen kann.
Inwiefern merken Dozenten und Professoren ebenfalls etwas vom Leistungsdruck?
Die Professorinnen und Professoren sind ebenso wie die Studierenden Teil der Leistungsgesellschaft und empfinden einen Druck, dem System zuarbeiten zu müssen. Beispielsweise müssen sie Gelder einwerben, Bücher und Aufsätze publizieren, ein bestimmtes Kontingent an Lehrveranstaltungen erfüllen, Auslandsaufenthalte und Gastvorträge absolvieren. Die Kette ist nach oben offen. Es gibt immer eine nächsthöhere Instanz, die eine Leistung abverlangt und sie bewertet. Die Frage ist: Bis zu welchem Punkt bin ich bereit, dem Druck nachzugeben – und ab wann stemme ich mich dagegen?
Hatten Sie während Ihres Aufenthalts in Oxford auch das Gefühl, dass die Studenten einem gewissen Leistungsdruck unterliegen?
Ja, sogar noch verschärft. Ich hatte dort überwiegend mit Doktoranden und Masterstudierenden Kontakt. Der Druck war dort gewissermaßen verdoppelt, weil Oxford das Label einer „Elite-Uni“ trägt. Dadurch musste nicht nur die individuelle Leistung erbracht werden, sondern dieser Überbau der Uni Oxford war noch mal ein zweiter großer Fußstapfen, in den man treten musste.
Würden Sie sagen, dass sich die Stärke des Leistungsdrucks seit der Beendigung Ihres Studiums verändert hat?
Meiner persönlichen Erfahrung nach ist die Empfindung von Leistungs- und Erwartungsdruck auch etwas sehr individuelles. Es kommt immer darauf an, wie sehr man sich von einer Notenskala, Selbstansprüchen oder auch Ansprüchen der Eltern belasten lässt. Sowohl zu meiner Studienzeit als auch jetzt gibt es Studierende, die es besser wegstecken können, dass etwas von ihnen abverlangt wird – und für andere ist es eine unheimliche Anstrengung, immer wieder benotet zu werden. Aus einer historischen Perspektive ist es sicher so, dass „Leistungsdruck“ ein Phänomen der Moderne ist, das sich seinerseits als Produkt gut verkaufen lässt. Es gibt ja geradezu eine Entspannungsindustrie, die unseren Stress und Ehrgeiz für teuer Geld wegzutherapieren verspricht.
Wie gehen Sie persönlich mit Stress und Leistungsdruck um?
Das ist vermutlich das Perfide an einer „Leistungsgesellschaft“: Dass sie nicht nur den beruflichen Bereich affiziert, sondern in alle unsere Lebensfelder einsickert. Ich versuche trotzdem, einen Raum in meinem Leben zu finden, der frei von Leistungsdenken ist, wo ich meinen Ehrgeiz ausschalten kann – etwa beim Yoga. Für viele ist auch ehrenamtliches Engagement eine Möglichkeit, um sich eine Ecke im Leben zu bauen, die nichts mit dem Alltagsgeschäft zu tun hat.
Was würden Sie Studienanfängern mit auf den Weg geben wollen?
Genießen Sie die Zeit an der Uni und die Freiheit, die Sie Ihnen bietet! Man wird sehr schnell in einen „Studier-Wahnsinn“ eingespeist, und dann läuft man schon während seines Studiums in diesem Hamsterrad und denkt nur daran, welche Hausarbeiten und Prüfungen man noch alle ablegen muss. Natürlich müssen diese Prüfungsleistungen auch erbracht werden, gleichzeitig befindet man sich ja noch in der Ausbildung. Man bekommt hier Zeit auch zur Bildung seiner Persönlichkeit geschenkt. Ich empfinde das als einen großen Luxus, den man aus den Augen verlieren kann, wenn man sich von den Erwartungen erschlagen lässt.
2013
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