Was genau ist an einer Leitungsgesellschaft eigentlich „das Böse“, die Leistung oder die Gesellschaft? Bedeutet jeder Umweg ein Scheitern? Für den 31-jährigen Diplom-Psychologen Marius Richter steht jedenfalls fest: Eine Anleitung zum Glücklich-Sein wird dringend benötigt.
Stichwort Leistungsgesellschaft, welche Assoziationen verbinden die meisten Menschen mit diesem bedeutungsschwangeren Wort?
Für die meisten ist dieser Ausdruck rein negativ konnotiert. Leistung ist mit Arbeit verbunden und Arbeit ist für viele etwas, das sie aus dem Alltag zwar als notwendig, aber vor allem als nervig und kräftezehrend kennen. Wer Leistung hört, denkt heutzutage daran, etwas leisten zu müssen. Oder sogar jemandem Rechenschaft ablegen zu müssen darüber, was man bisher erreicht hat im Leben. Im Falle der Leistungsgesellschaft ist dieser jemand, vor dem man Leistung zeigen muss eben die Gesellschaft.
Die Menschen haben verlernt, loszulassen, einfach mal zu entspannen, also zur Ruhe zu kommen, ohne extra dafür einen Yoga-Kurs zu besuchen oder ein Wellness-Wochenende zu buchen.
Aber leiste ich denn nicht in erster Linie etwas für meine eigenen Bedürfnisse und meine Zufriedenheit? Ich arbeite ja zum Beispiel, damit ich mir von dem verdienten Geld etwas kaufen kann, oder ich studiere das Fach, das mich am meisten interessiert. Etwas zu leisten macht doch eigentlich Spaß, wenn man ein gewisses Ziel verfolgt.
Das stimmt, im Normalfall stellt sich beim Menschen nach getaner Arbeit ein Gefühl der Zufriedenheit ein. Wenn sich aber kein Ruhepunkt einstellen kann, an dem sich diese Zufriedenheit zeigen kann, weil man schon wieder das nächste Projekt vor Augen hat, dann wird es zur Belastung. Die Menschen haben verlernt, loszulassen, einfach mal zu entspannen, also zur Ruhe zu kommen, ohne extra dafür einen Yoga-Kurs zu besuchen oder ein Wellness-Wochenende zu buchen.
Und à propos Studienwahl: Sie gehören zur Minderheit, wenn Sie sich bei Ihrer Fachwahl nur von Ihrer Leidenschaft haben leiten lassen. Viele junge Menschen haben aus verschiedensten Gründen nicht die Möglichkeit, sich in der Studienfachwahl lediglich nach ihren Interessen zu richten, sondern werden von äußeren Einflüssen geleitet.
Welche der angesprochenen äußeren Einflüsse schlagen sich bei der Entscheidung zum Studium denn am häufigsten nieder?
Zu den einflussreichsten Richtungsweisern zählt sicherlich das Elternhaus. Wenn beide Eltern beispielsweise Anwälte sind, wird oft vom Kind gefordert, Jura zu studieren, um eine Tradition weiterzuführen. Oder andersherum funktioniert dieser Druck auch, so nach dem Motto: „Kindchen, werd‘ bloß keine Ärztin, siehst ja bei mir, was für ein schlimmer Job das ist.“
Sie meinen also, ob ich dem ständigen Druck eines strengen Vaters ausgesetzt bin oder einem gewissen gesellschaftlichen Zwang, läuft auf das gleiche unbehagliche Gefühl hinaus?
Was dabei herauskommt ist zumindest in beiden Fällen eine Art innerer Zwiespalt zwischen eigenen Bedürfnissen, Interessen, Neigungen und den Forderungen, denen man ausgesetzt zu sein glaubt.
Warum denken Sie, hat sich in unserer Kultur eine Leistungsgesellschaft entwickelt?
Schon immer galt dieser intuitive Gerechtigkeitssinn: Wer härter arbeitet als alle anderen, der verdient auch höheres Ansehen, mehr Geld oder womit sonst noch alles gelockt wird. Fleiß soll sich auszahlen, so ist es in uns verankert. Der Antrieb, besonders hart zu arbeiten, um sich dann von allen anderen abzuheben, spornt uns an und auch der Gedanken an die lauernde Konkurrenz. Schon im Kleinkindalter wird einem eingetrichtert, dass man alles erreichen kann, wenn man sich nur genug anstrengt. Und hier fängt die Schwierigkeit dann an. Der Druck wächst, immer und überall Vollgas geben zu wollen, sich von der besten Seite präsentieren zu müssen und immerzu perfekt zu sein. Denn alle fürchten sich vor dem Umkehrschluss: Wenn ich etwas nicht erreiche in im Leben, dann habe ich mich anscheinend nicht genug angestrengt und der Fehler liegt ganz allein bei mir und meiner Faulheit. Man rast also durchs Leben durch ohne zu bedenken, dass man Prioritäten setzen muss. Niemand kann in allen Bereichen ständig perfekte Leistungen abliefern.
Würden Sie sagen eine Leistungsgesellschaft ist im Prinzip ein Schrei nach Anerkennung?
Ein erster Punkt ist, dass das Bedürfnis nach Anerkennung ist ja nichts Schlimmes ist, jeder kennt doch das Gefühl, dass man für gewisse Sachen gelobt werden will oder dass zumindest anerkannt wird, dass man sich Mühe gegeben hat. Krankhaft wird es, sobald der Anerkennungswunsch hierarchisch über den eigenen Bedürfnissen steht. Wenn ich zum Beispiel anfange, Jura zu studieren, obwohl ich es eigentlich langweilig finde, aber spüre, dass die Eltern es erwarten.
Der zweite Punkt ist, dass ich unter „Leistungsgesellschaft“ heutzutage auch einen weiteren Aspekt zähle, nämlich den der Selbstverwirklichung. Es ist völlig aus der Mode gekommen, einen Beruf zu erlernen, nur um damit später Geld verdienen zu können, immer muss Leidenschaft im Spiel sein. Früher hat man eine Schreinerlehre gemacht und war dann Schreiner, heute entscheidet man sich für eine Lehre bei der Bank und muss sich überall dafür rechtfertigen, warum man sich denn nicht etwas Spannenderes ausgesucht hat.
Welche Risiken bergen die Züge einer Leistungsorientierten Gesellschaft besonders für junge Menschen?
Wenn von Anfang an klar ist, dass sich nur der oder die Beste durchsetzen wird, dann bedeutet das ein enormes Konkurrenzgefühl. Jeder kann so gesehen zum Feind werden, auch Freunde. Entweder bildet sich dadurch dann eine dicke Hornhaut um einen wie ein Panzer, oder es besteht das Risiko, daran zu zerbrechen und gesellschaftlich gesehen zu scheitern.
Eine letzte Frage: Wie bewerten Sie die Umstellung auf das Bachelorsystem an deutschen Universitäten in Bezug auf den Begriff der Leistungsgesellschaft?
Die einheitliche Umstellung auf Bachelor und Master dient erstmal zu Vergleichszwecken, vor allem auf internationaler Ebene. Grundsätzlich gilt aber: Je weiter das Feld, mit dem es sich zu vergleichen gilt, desto mehr Konkurrenten treten auf und desto höher ist auch das Risiko im Vergleich zu verlieren, bzw. zu scheitern. Aus rein ökonomischer Sicht ist dieses System bestimmt sehr sinnvoll, aus psychologischer Sicht macht der ständige Vergleich aber einfach nur unglücklich.
2013
Foto: https://www.flickr.com/photos/kittysfotos/6362769465/