Bulgarien – Ein Dschungel voller Entdeckungen und Eindrücke
Wo im Osten der Europäischen Union die Sonne aufgeht, geht im Wandel von Kommunismus zu Kapitalismus auch nicht nur der Mond manchmal unter. Bulgarien wirkt wie ein europäischer Dschungel auf dem Balkan zwischen dem „eigentlichen“ Europa und dem Schwarzen Meer. Für viele EU-Bürger ist der südöstliche Rand der Staatengemeinschaft unbekanntes Niemandsland und bekommt in den westlichen Medien vorzugsweise nur Platz mit Themen wie Zigeunern und illegalen Arbeitern oder als billiger Strand für Abi-Abschlussfahrten.
Fotos: Felix Sauter, Henryk Balkow
Als sechsköpfige Reisegruppe junger Europäer haben wir uns deshalb mit Rucksack, Kamera und vielen Fragen auf die Suche nach Abenteuern und Eindrücken im wahren Bulgarien gemacht und dabei ein überraschend interessantes Land entdeckt.Eine Woche lang habe ich mit Freunden Städte, Berge, Land und Meer in Bulgarien abgegrast, immer mit der Kamera im Anschlag. Ich wollte unbedingt einen Pferdewagen mit „fahrendem Volk“ filmen. Das gehörte für mich in ein Video über Bulgarien. In Rumänien habe ich das ja auch gesehen. Ich war erfolglos, konnte meine westeuropäischen Klischees nicht bestätigen und wurde eines Besseren belehrt. Bulgarien ist weit mehr als das. Ein Land voller Hausaufgaben der EU, voller Korruption und Stillstand, voller Probleme – freilich. Aber auch ein Land mit großen Schätzen an Kultur und Natur – wenn es denn nicht so verwildert und verwahrlost wäre. Es ist schwer, Bulgarien schön zu nennen. Es ist jedoch ein Dschungel voller Entdeckungen und Eindrücke. Noch nie habe ich in einer Woche so viele verschiedene Impressionen gesammelt, wie auf diesem Land zwischen Balkan, Schwarzem Meer und Orient. Es wirkt wie Europas wilder Osten, aber ohne Goldgräberstimmung; dafür mit vielen Geisterhäusern.
Alte Frauen mit tiefen Falten und fast ohne Zähne verkaufen vergeblich Gemüse, Honig oder Blumensträuße am Straßenrand. Bullige Männer mit kurzgeschorenen Händen und Bärenpranken sitzen wartend auf den Wandel an Bushaltestellen. Oberleitungsbusse fahren wie Straßenbahnen ohne Schienen durch die Stadt. Zerfallene Häuser und Fabriken, halbe Baustellen, die fertig werden und verwilderte Tourismuszentren. Dagegen die Bettenburgen an den bulgarischen Goldstränden der Schwarzmeerküste. Sie sind voll von deutschen Jugendgruppen, die billig ihren Schulabschluss feiern wollen. In einem Land, in dem der Schulabschluss gefeiert wird, als wäre es die Hochzeit des Jahrhunderts. Mit dicken, geliehenen Autos werden die Kinder der wohlhabenderen Bevölkerung in schicken Kleidern abgeholt und gefeiert. Es ist schwer, sich hier eine gemeinsame Europäische Union bildlich vorzustellen. Vielleicht ist es aber gerade der Kontrast, der den südöstlichen Rand der EU so spannend macht.
Vorab
Eine Woche lang habe ich mit Freunden Städte, Berge, Land und Meer in Bulgarien abgegrast, immer mit der Kamera im Anschlag. Ich wollte unbedingt einen Pferdewagen mit „fahrendem Volk“ filmen. Das gehörte für mich in ein Video über Bulgarien. In Rumänien habe ich das ja auch gesehen. Ich war erfolglos, konnte meine westeuropäischen Klischees nicht bestätigen und wurde eines Besseren belehrt. Bulgarien ist weit mehr als das. Ein Land voller Hausaufgaben der EU, voller Korruption und Stillstand, voller Probleme – freilich. Aber auch ein Land mit großen Schätzen an Kultur und Natur – wenn es denn nicht so verwildert und verwahrlost wäre. Es ist schwer, Bulgarien schön zu nennen. Es ist jedoch ein Dschungel voller Entdeckungen und Eindrücke. Noch nie habe ich in einer Woche so viele verschiedene Impressionen gesammelt, wie auf diesem Land zwischen Balkan, Schwarzem Meer und Orient. Es wirkt wie Europas wilder Osten, aber ohne Goldgräberstimmung; dafür mit vielen Geisterhäusern. Alte Frauen mit tiefen Falten und fast ohne Zähne verkaufen vergeblich Gemüse, Honig oder Blumensträuße am Straßenrand. Bullige Männer mit kurzgeschorenen Händen und Bärenpranken sitzen wartend auf den Wandel an Bushaltestellen. Oberleitungsbusse fahren wie Straßenbahnen ohne Schienen durch die Stadt. Zerfallene Häuser und Fabriken, halbe Baustellen, die fertig werden und verwilderte Tourismuszentren.
Dagegen die Bettenburgen an den bulgarischen Goldstränden der Schwarzmeerküste. Sie sind voll von deutschen Jugendgruppen, die billig ihren Schulabschluss feiern wollen. In einem Land, in dem der Schulabschluss gefeiert wird, als wäre es die Hochzeit des Jahrhunderts. Mit dicken, geliehenen Autos werden die Kinder der wohlhabenderen Bevölkerung in schicken Kleidern abgeholt und gefeiert. Es ist schwer, sich hier eine gemeinsame Europäische Union bildlich vorzustellen. Vielleicht ist es aber gerade der Kontrast, der den südöstlichen Rand der EU so spannend macht.
Nach Jahrzehnten kommunistischer Diktatur aus Moskau lässt sich wohl auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht einfach die Reset-Taste drücken und alles auf Anfang setzen. Einige Länder im Osten Europas haben die so genannte „Transition“ weitestgehend geschafft und erleben gerade wirtschaftlichen Aufschwung. Bulgarien hält die rote Laterne mit dem traurigen Rekord des ärmsten Landes der EU in der Hand. Unsere Reise durch Bulgarien gestalten wir daher so bescheiden wie möglich.
Ankunft in Sofia
Bulgariens Hauptstadt ist gute 2100 Kilometer von Berlin entfernt. Mit einem Billigflieger reisen wir pro Person inklusive umfangreicher Outdoor-Ausrüstung als Gepäck für 130 Euro hin und zurück. Unser sehr modernes Hostel „Mostel“ kostet gerade mal 9 Euro pro Nacht und Person inklusive Flatrate-Frühstück, eigenem Apartment mit Küche und sauberen Sanitäranlagen und individueller sowie umfangreicher Beratung zur Stadt, die ich nicht einmal von deutschen Tourist-Infos kenne. Man spricht gut Englisch hier. Aber es ist auch ein Hostel für Globetrotter, kein Wunder. Wir ziehen also durch die Stadt, essen einheimisch und zum halben Preis im Vergleich zu Deutschland. Nur wenige Bulgaren können Englisch. Zum Glück haben wir einen gebürtigen Russen in der Gruppe. Mit dieser Sprache können die Bulgaren schon eher etwas anfangen. Überall kyrillische Schrift, die wir nicht einmal entziffern können. Die Orientierung fällt da für einen Zentraleuropäer schwer. Aber für Zentraleuropäer ein besonders wichtiges Kriterium in der Urlaubsgestaltung: Es ist weitestgehend sauber. Außer der typischen Fastfoodkette sehen wir kaum westeuropäische Ketten oder Touristen. Sofia am Pfingstwochenende scheint ein Geheimtipp zu sein. Einige Geschäfte sind geöffnet, obwohl Sonntag ist. Vor allem Schuh- und Handtaschengeschäfte sowie Kosmetikläden. Darauf stehen osteuropäische Frauen. Ab und zu sehen wir arme Menschen in Mülleimern kramen oder alte und gebrechliche Menschen betteln. „Zigeuner“, auch wenn ich den Begriff selbst nicht mag, treffen wir kaum an. Und auch Trickbetrügern begegnen wir nicht. Außer einem Versuch, im Bus einen Geldbeutel aus der Tasche zu ziehen, haben wir auch sonst keine Kleinkriminalität erlebt. Dagegen ein sehr überraschendes Erlebnis gleich in den ersten Minuten nach unserer Ankunft. Im Bus vom Flughafen in die Stadt lösen wir zwar gemäß Reiseführer Tickets beim Busfahrer, wussten aber nicht, dass wir für unser Gepäck weitere Fahrkarten hätten kaufen müssen. In bulgarischen Bussen sind eigentlich immer Kontrolleure und Fahrkartenverkäufer unterwegs. Sie wollen uns erklären, dass unser Gepäck schwarz fährt. Wir verstehen nicht viel, aber sowohl andere Fahrgäste, als auch der Busfahrer streiten sich laut auf Bulgarisch mit den Kontrolleurinnen, setzen sich für uns ein und verscheuchen die Damen brüllend aus dem Bus. Wir stehen etwas unter Schock, sind aber gleichzeitig, wenn auch befremdlich, irgendwie erleichtert. Die Stadt wirkt zwar fremd, aber insgesamt freundlich. Hohe Berge im Panorama, davor große Denkmäler, bulgarische und europäische Flaggen an den zerfallenen Gebäuden. Dazwischen ragen auch ein paar moderne Bauten als Kontrast zwischen den vielen hässlichen, sozialistischen Wohnsilos hervor. Auf einem großen Platz fahren Skateboarder und Dirtbiker, junge Pärchen sitzen an großen Brunnen. Ein junger Pianist gibt als Straßenmusiker ein Konzert auf einem Flügel. Wir sind gerade wenige Stunden in Sofia, haben aber schon jetzt so viele Eindrücke, als wären wir eine Woche durchs Land gereist. Zeit, zu schlafen. Wegen der Zeitumstellung eine Stunde weniger.
Ab in die Berge
Es ist Montag früh und wir fahren zu einem Busbahnhof Ovacha Kupel im Südosten der Stadt mit zwei Taxis. Bei den halben Preisen hier kann man das schon einmal machen. Man sollte sich aber das Taxi von Einheimischen rufen lassen, um nicht auf schwarze Schafe reinzufallen, die Touristen gerne mal zu Mondpreisen transportieren. Insgesamt sind öffentliche Verkehrsmittel hier sehr billig. Wer mit dem Auto nach Bulgarien fährt, tut seiner Gesundheit, seinen Stoßdämpfern und den Reifen nichts Gutes. Die Straßen sind in noch schlechterem Zustand als die Verkehrsmoral. Da ist der klimatisierte Kleinbus ins circa 100 Kilometer entfernte Rilagebirge für umgerechnet 5,50 Euro doch viel entspannter und wir können die Landschaft auf uns wirken lassen. Als würden wir über Panzerstraßen fahren, tuckern wir in das wilde Hochgebirge südlich von Sofia. Wir sind gut ausgerüstet und aus Erfahrung auf alles vorbereitet. Zum Glück, denn wir werden alles zum Überleben brauchen…Das Rilagebirge trotzt jedem Vergleich mit den Alpen. Wer die pure, alpine Wildnis zwischen Bären, Bächen und Buchen will, ist hier genau richtig. Schon vorab war es schier unmöglich, überhaupt eine Wanderkarte im Internet zu bekommen. Eine 1:50.000-Karte musste für die grobe Tourenplanung zunächst genügen. Vor Ort wollten wir dann eine detailliertere Karte kaufen. Aber ersten kommt alles anders und zweitens…als man denkt
Nach etwas mehr als zwei Stunden Fahrt kommen wir im Rila-Kloster an. Ein sehr spiritueller Ort. Außer ein paar obligatorischen asiatischen Knipsern haben wir das Kloster fast für uns alleine. Ein sagenhaftes Bild, wie das monumentale Gotteshaus mitten im Hochgebirge thront. Ein bisschen Weltgeist und ein paar Balken Empfang gibt es aber auch hier. Ich staune nicht schlecht, als ein orthodoxer Mönch mit seinem Handy telefonierend über den Hof schlendert. Allgemein sind die Bulgaren ja nicht so von Smartphones angefixt wie wir Zentraleuropäer. Da staunt man dann in so einem Kloster doch ein wenig…Sonst ist man aber sehr konservativ hier. Die knipsenden Chinesen werden aus dem Kreuzgang verbannt und bekommen einen Platzverweis. Wir haben nicht verstanden, ob es wegen des Knipsens oder den zu kurzen Hosen war.
Für uns ist das Rilakloster ohnehin nur Start und Ende einer Rundwanderung. Keine Pilgerwanderung, eher eine Survivaltour. Das Abenteuer beginnt gleich im Souvenirladen. Unsere in Sofia bereits gedämpften Hoffnungen, eine detaillierte Wanderkarte zu bekommen, zerschlagen sich hier vollends. Später werden wir auch verstehen, warum. Auf unsere Frage hin nach einer Wanderkarte kramt der alte Mann nach der offensichtlich selten gefragten Bück-Dich-Ware in einem verstaubten Versteck hinter einem Gemälde. Wieder nur Maßstab 1:50.000. Aber für umgerechnet 3,50 Euro nehmen wir die Karte mit – und das ungute Gefühl, mit der Touristenkarte schnell an Grenzen zu stoßen. Und so kommt es auch. Wir sind gerade eine Viertelstunde unterwegs, da stellen wir schon fest, uns verlaufen zu haben und zweifeln an unseren Pfadfinderkünsten.
Nach einigem hin und her treffen wir zwei französische Wanderinnen, die uns einen Tag und mehrere Erfahrungen voraus sind. Unseren eingezeichneten Wanderweg gibt es gar nicht (mehr). Und mit Markierungen und Schildern habe man es hier wohl nicht so. Man bahnt sich seinen eigenen Weg. Wir verzichten auf die harte Tour mit über 1000 Höhenmetern Anstieg und ändern spontan unsere Routenplanung. Wir gehen doch nicht zu den berühmten sieben Rila-Seen. Da wir erst Nachmittag losgegangen sind, machen wir heute ohnehin noch keine großen Sprünge. Hauptsache erstmal ins Hochgebirge.
Wir durchqueren unter blauem Himmel noch ein paar Kilometer auf Mittelgebirgs-Niveau. Schöne Mischwälder mit den alpinen Bergen stets vor Augen. Die eingezeichneten Schutzhütten sind sehr unorthodox, eigentlich unbewohnbar. Wir wollten ohnehin im Freien übernachten und schlagen unser Lager zwischen einem Bach und Resten von Schnee auf. Ein Lagerfeuer hält uns warm und ungebetene Gäste fern. Mit zwei Kochern machen wir eine Feldküche auf und essen heute Nudeln mit Pesto und Knackwürsten. Die Nacht wird kalt. In Sommerschlafsäcken besonders. Für Ende Mai ist es hier noch sehr winterlich. Wenigstens haben die Bären Mitleid und lassen uns in Ruhe schlafen.
Unsere Motivation ist groß. Nach der ersten Nacht unter freiem Himmel in der Wildnis wollen wir heute an einer bewirtschafteten Hütte namens Ribni Ezera zumindest zünftig Mittagessen. Die Outdoor-Mahlzeiten mit dem Campingkocher machen bei der hohen Belastung nicht ewig satt. Vor allem unser Frühstück fällt immer sehr bescheiden aus. Ein Ei und ein Müsliriegel. Wasser gibt es hier zum Glück zu genüge.
Mit unseren Wanderstöcken – wahren Lebensrettern – im Anschlag geht es heute himmelwärts, Höhenmeter schrubben. Die Karte hilft nur grob bei der Orientierung. Wir laufen viel nach Bauchgefühl und Pfadfinderwissen im Gelände. Der Untergrund ist anfangs noch wie im Mittelgebirge gut gehbar.
Die erhoffte, bewirtschaftete Hütte ist aber unbemannt, wirkt wie für immer verlassen. Wir machen an der Quelle dort noch einmal Pause und beschließen, bis zu einer anderen, bewirtschafteten Hütte an einem Bergsee zu laufen und dort vielleicht auch zu übernachten, nachdem wir ordentlich gespeist haben.
Ab 1800 Höhenmetern wird es wild unter den Füßen. Pfade werden von uns neu getrampelt. Vorsichtig gehen wir an den lilafarbenen Rila-Primeln vorbei, die Wahrzeichen des Nationalparks Rila sind.
Ab ca. 2000 Höhenmetern lässt die sehr grüne, wilde Fauna nach und Schneefelder begrüßen uns. Damit hatten wir nicht gerechnet. Ende Mai noch so viel Schnee in dieser Höhenlage. Bei Google Earth sah das anders aus…Wir nehmen es sportlich, sehen die warmen Mahlzeiten schon vor uns. Strahlende Höhensonne und tiefblauer Himmel begleiten uns im Schnee. Es ist wunderschön hier oben. Am späten Nachmittag kommen wir an dem Bergsee an. Er ist zugefroren, aber wir laufen lieber drum herum. Am Ende des ersten Bergsees, kurz vor einem zweiten, ist die bewirtschaftete Hütte Ribni Ezera auf 2230 Metern ü NN in einem Bergkessel eingezeichnet. Es sind sogar mehrere, können wir zwischen dem ganzen Schnee erkennen. Wir freuen uns. Die Hütten sehen von weitem nicht so zerfallen aus, wie die anderen bisher auf unserem Weg.
Als wir davor stehen, wird uns dann aber doch etwas mulmig. Sieht ziemlich verlassen aus und wie immer verwahrlost. Mit einem Strick ist die Eingangstür zugebunden. Das ist eindeutig ein Notfall. Wir schneiden das Ding durch und gehen vorsichtig rein. Hier könnten Horrorfilme gedreht werden.
Es sieht so aus, als würde hier jemand wohnen und könnte jederzeit zurückkommen. Gehacktes Holz liegt fertig da. Essensreste in der Küche. Die Toiletten sehen abenteuerlich aus. Betten sind gemacht. Wir überlegen, weiterzuziehen oder hier drin heute zu übernachten und entschließen uns, wie in einem schlechten Horrorfilm, uns zu teilen. Drei Leute gehen als Erkundungstrupp zum nächsten Bergsattel, um einen gehbaren Weg für den Folgetag zu finden und zu markieren. Die anderen bereiten das Lager vor, machen Feuer. Vollgetankt mit Sonne sitzen wir am Abend vor dem gruseligen Bau am Lagerfeuer.
Der Ofen in der Küche dient uns heute für die Zubereitung von drei Wahlessen. Reis mit drei unterschiedlichen Saucen. Dazu Knackwürste. Hier oben ist alles ein Festmahl. Vor dem Ofen in der Küche gehen wir in unsere Schlafsäcke und genießen die Wärme des Feuers. Der Hausgeist sucht uns nicht heim und auch ein Einsiedler kehrt in der Nacht nicht zurück. Wir überleben und schlafen super.
Im Schnee baut sich am Morgen jeder sein eigenes Outdoor-Klo mit einer Schaufel. Der Fluss dient als Badewanne für eine Katzendusche. Dann geht’s los. Mit den großen Rucksäcken stapfen wir wie bei einer Expedition quer über Schneefelder hoch auf die Bergkette. Nach 1,5 Stunden steilen Anstiegs über 300 Höhenmeter im Schnee erreichen wir erleichtert den Bergsattel und blicken herrlich in drei Täler. Starker Wind und Regen machen uns zu schaffen. Wir verweilen nicht lang, setzen gleich zum Abstieg an.
Markierungen gibt es wieder nur wenige. Der Weg ist unter Schneefeldern versteckt und in den unteren Lagen zunehmend durch Büsche und Bäume wild zugewachsen. Viele kleine Flussläufe verbergen sich unter den Schneefeldern, manchmal kleine, zugefrorene Weiher. Wir laufen vorsichtig. Gerade beim Abstieg passieren ja bekanntermaßen die meisten Unfälle. Zwischendurch eine kleine Pause. Aber wir wollen alle schnellst möglich wieder ins Tal, wo wir die letzte Hoffnung auf eine bewirtschaftete Hütte hegen. Denn unsere Essensvorräte sind jetzt sehr knapp. Es geht schon an die trockenen Reiswaffeln, unsere Notration.
Am frühen Abend kommen wir schließlich an einer tatsächlich bewirtschafteten Hütte an und sehen auch erstmals in den Bergen zwei Wanderer. Die Herberge sieht modern aus. Sie wird privat bewirtschaftet von einem Ehepaar, das uns zunächst ignoriert. Nur der Wachhund schenkt uns alle Aufmerksamkeit. Unser russischstämmiger Begleiter Alex geht vor und spricht die Besitzer an. Mit einer Mischung aus bulgarisch und russisch verständigen sie sich. Für umgerechnet 6 Euro pro Nase und Nacht schlafen wir in richtigen Betten, haben Duschen und sogar eine moderne Küche. Aus seinen eigenen Vorräten verkauft uns der Besitzer für wenige Lewa ein paar Bier. Am Abend verkochen wir unsere letzten Essensvorräte, wohlwissend, dass wir am nächsten Tag wieder Rila und das Kloster erreichen werden, wo es Nachschub geben wird. Die Küche hat sogar einen Fernseher und den bulgarischen Wetterbericht verstehen sogar wir. Und so erfahren wir, dass uns die Schwarzmeerküste mit Sonnenschein begrüßen wird. Noch mehr freuen wir uns jetzt auf den nächsten Tag, an dem wir die weite Reise dorthin antreten werden.
Die letzten Kilometer ins Tal auf einfachem Schotteruntergrund laufen sich fast wie von allein. Wir laufen auf Mittelgebirgsniveau einige Kilometer bis an die Straße, die von Rila zum Kloster Rila führt und finden dort an einem Hotel die Bushaltestelle. Nach einem kurzen Espresso und schwerem Abschied von unseren Wanderstöcken nehmen wir den Kleinbus nach Dupnitsa, wo wir mit einem anderen Bus zurück nach Sofia kommen und gleich mit einem Fernbus nach Varna ans Schwarze Meer düsen. Die knapp siebenstündige Fahrt zwischen Sofia und der Küste kostet im modernen Reisebus gerade mal 13 Euro pro Person. Angesichts buckeliger Straßen war es wohl eine gute Idee, das Auto zuhause zu lassen und mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Die letzten Kilometer bis zum „X-Hostel“ müssen wir dennoch laufen. Das Hostel liegt zehn Minuten vom Strand entfernt in einem ruhigen Villenviertel von Varna. Mit 10 Euro pro Person und Nacht in einem sauberen Hostel und mit (sehr einfachem) Frühstück ist das aber okay. Die Inhaber und Mitarbeiter sprechen alle gut englisch und sind international. Die krampfhafte Partytour des Teams wirkt etwas amüsant auf uns Globetrotter. Die Tipps, mit deutschen Abiklassen in den Pubs und Clubs der Touri-Goldstrände ein paar Kilometer weiter zu feiern, ignorieren wir. Wir hatten uns ja für Balkan statt Ballermann entschieden. Wir bleiben heute mit ein paar Bier im Hostel und schauen uns im tropischen Ambiente den Regen an, hoffen für den folgenden Tag auf besseres Wetter.
Das Glück der Tüchtigen ist uns hold. Strahlender Sonnenschein. Wir brunchen aber erst einmal im „Alba“, einem Geheimtipp des Hostels. Wir essen beste Balkan-Speisen zu unverschämt günstigen Preisen. Wie die Bulgaren nehmen wir uns viel Zeit und mehrere Gänge. Viel Gemüse und Weißkäse dominieren die Gerichte und erinnern sehr an türkische Spezialitäten. Bulgarien hat ja über Jahrtausende so einige Einflüsse erlebt wie die Osmanen oder Thraker. Varna ist auch touristisch noch relativ natürlich geblieben und nicht von großen Ketten verwurstet worden. Viele stumme Zeitzeugen wie ein altes römisches Bad und Museen spiegeln die reichhaltige Geschichte wider. Der Strand ist heute aber verlockender. Wir sind in der Vorsaison da und haben den Strand fast für uns allein. Die Bettenburgen sind weit von uns entfernt an den Goldstränden. Der Wellengang ist heute hoch, der Bademeister hat die rote Flagge am Turm gehisst. Wir dürfen nur bis zum Bauch ins Wasser. Tragisch für unsere Sportstudenten, die sich schon auf die Delfine gefreut hatten.
Einen wunderbaren Sonnenuntergang am Strand später können wir uns am folgenden Tag nochmal ordentlich in die salzigen Wellen des Schwarzen Meers graben und speisen am äußersten Südost-Rand der Europäischen Union zu außerirdischen Preisen, bevor wir mit unseren Riesen-Rucksäcken über Sofia die Heimreise nach Zentraleuropa antreten werden und eine letzte Nacht dort nochmal um die Häuser und die Parks ziehen. Eine Woche voller Kontraste und Eindrücke wollen jetzt erst einmal verarbeitet werden. Unsere Vorurteile über Bulgarien lassen wir zurück und planen schon das Comeback. Man soll ja nicht zweimal das gleiche Land bereisen, aber Bulgariens Seele ist tief genug für weitere Entdeckungen.
2012